RICHARD PESTEMER (ORTSBÜRGERMEISTER VON NEUNKIRCHEN IM HUNSRÜCK): „DER KAMPF DER BÜRGER UND GEMEINDEN UM DIE GESTALTUNGSMÖGLICHKEITEN UNSERES LEBENS“
Richard Pestemer (geb. 1946) ist seit 8 Jahren parteiloser und ehrenamtlicher Ortsbürgermeister der kleinen Gemeinde Neunkirchen (ca. 160 Einwohner) im Hunsrück. Seit 50 Jahren sucht er nach einer Alternative zum Kapitalismus und seinem Profitwahn und kämpft nun leidenschaftlich für die Regenerierung von Selbstversorgerstrukturen in seiner Gemeinde, um (erfolgreich!) der Abwanderung von Jugendlichen entgegenzuwirken und „seine“ Gemeinde wiederzubeleben. Seine Ziele sind eine solarangetriebene, nachhaltige Regionalgesellschaft und ein regionales Kreislaufsystem aus Produktion und Konsum. Er ist Anhänger der Ideen des Ökonomen E.F. Schumacher („Small is beautiful“). Noch etwas zum Hintergrund: Neunkirchen liegt in der Nähe des französischen Kernkraftwerks Cattenom.
Mit der Wiederbelebung von Selbstversorgerstrukturen ist Herr Pestemer sowohl der Landesregierung Rheinland-Pfalz als auch Energieversorgern wie RWE ein Dorn im Auge. Im Streit mit der Landesregierung wurde eine Bürgerinitiative Kommunalreform gegeründet, im Streit mit RWE versucht Neunkirchen, den Strom für die Straßenbeleuchtung nicht länger vom Energieriesen zu beziehen, sondern mit den eigenen Solaranlagen (das halbe Dorf hat Solaranlagen auf dem Dach) herzustellen. Es entbrannte ein bis heute ergebnisloser Streit um Paragrafen und Bestimmungen, der es als Posse bis in die Wochenzeitung DIE ZEIT schaffte.
Richard Pestemer studierte Politikwissenschaften und Japanisch (er ist mit einer Japanerin verheiratet) und bezeichnet sich selbst eher als Philosophen denn als Politiker, der durch die 68er geprägt wurde. Schon damals beschäftigte er sich intensiv mit Marx, Mao und Laotse und mit ökologischen, anthropolo-gischen und kulturphilosophischen Fragen. Seine Tätigkeiten waren später Übersetzer, Dolmetscher, Hausmeister und freier Journalist. Es folgten 2 Entlassungen wegen angeblich linksradikaler Aktivitäten und eine politische Hinwendung zu den GRÜNEN. So war er 2 Jahre lang Mitglied der Stadtratsfraktion der GRÜNEN im Kölner Rat (davon 1 Jahr Fraktionsgeschäftsführer). Aus inhaltlichen Gründen folgte eine Abwendung von den GRÜNEN und eine Hinwendung zu dem, was er die Graswurzelbewegung nennt. Als er vor 20 Jahren von Köln – auf der Suche nach einer ländlichen Idylle mit seiner Frau – nach Neunkirchen zog, schien er mit seinen Ideen nach Selbstbewirtschaftung des Waldes und der Gemeinde in Form von Gemüsegärten nicht so recht in dieses damalige CDU-Dorf zu passen, wurde dann aber sogar Bürgermeister.
Seitdem versucht er, lokal und regional nach dem Prinzip Verantwortung (analog Hans Jonas) und dem Prinzip des menschlichen Maßes (analog Günther Anders) auf ganz praktische Weise gestalterisch und gemeindenützig tätig zu sein.
Seine Denkweise lässt sich gut mit seinen Meditationssprüchen verstehen, von denen ich hier auszugs-weise einen wiedergeben möchte:
Heute morgen geht es rund um das kleine Feld: 12 ha, viel mehr hat es nicht.
Es könnte reichen für alle im Dorf:
Mehr braucht es nicht.Über das lange Feld hinweg, frisch ausgesät von modernsten Agrarmaschinen eines Großbetriebes, seh ich den Gemeindewald: Biomasse, Energie gebündelt: Mehr braucht es nicht …
… Hier ist alles im Überflusse da, wenn wir nur bescheidener blieben,
die Speisen der vier hiesigen Jahreszeiten und munden ließenin selbstgewebten, bunten Kleidungenin offenen, hellen Häuser,
ein Schwätzchen mit den Nachbarn halten, feste Feste feiern …
„Der Kampf der Bürger und Gemeinden um die Gestaltungsmöglichkeiten unseres Lebens“
In seinem Vortrag beschreibt Herr Pestemer seine Gemeinde und die ganz praktischen Anforderungen, die für eine bessere Selbstversorgung und die Wiederbelebung der Gemeindeaktivitäten (incl. Gemeinde-kneipe und Kirche) auf die Bürger zukommen, den Kampf mit den Landesbehörden und der RWE … und wie es die Gemeinde geschafft hat, auf einer Kreisstraße Tempo 29 durchzusetzen.
Zum Ausstieg aus der Stromversorgung und zum Streit mit der RWE sei hier noch kurz aus dem ZEIT-Artikel zitiert:
„So einfach sei der Ausstieg nicht, ließ RWE wissen. Schließlich gehörten die Laternen dem Konzern. Dann werde man von nun an Miete verlangen, antwortete der Bürgermeister. Schließlich stünden die Laternen auf dem Grund und Boden von Neunkirchen. Es entbrannte ein ergebnisloser Streit um Paragrafen und Bestimmungen. Dann knallte ein Auto gegen die Laterne. Seitdem steht sie schief. Solange nicht klar ist, wer ihr Eigentümer ist, wird das wohl so bleiben und allen vor Augen führen, was passieren kann, wenn sich der Bürgermeister eines kleinen Dorfes gegen der Kapitalismus stellt.“