Skip to main content

3. SYMPOSIUM: „WIE WOLLEN WIR (IN DER ZUKUNFT) LEBEN“ AM 6./7. OKTOBER 2012

Zusammenführung und Interpretation der Erkenntnisse
und der Versuch eines Ausblicks

Vorbemerkung:

 Die erste Erkenntnis bei unserer Suche nach Antworten darauf, wie wir unser Leben zukünftig gestalten wollen, war für mich anfangs banal: Dieses Mal ist es ungleich schwieriger, eine Zusammenfassung zu schreiben. Zudem brauchte es einige Zeit dafür. Erst beim Nachwirken der unterschiedlichen Eindrücke und vorgetragenen Erkenntnisse war es für mich möglich, diese bei der Komplexität und dem Umfang des Themas zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Erst im Nachhinein dieses Symposiums lässt sich nun schemenhaft ein Bild erkennen, das zeigt, wohin „unsere Reise in die (nähere) Zukunft“ wohl gehen mag und welche Herausforderungen auf uns zukommen.

Es folgte als nächstes die Erkenntnis, dass diese Zusammenführung der Ergebnisse des Symposiums außerdem sehr subjektiv sein muss – es geht nicht anders. So schildert die folgende Zusammenfassung daher meine eigene subjektive Sichtweise und meine eigenen gewonnenen Erkenntnisse, wobei letztere auch für mich überraschend waren – ich hatte derartiges vor dem Symposium nicht erwartet. Man verzeihe mir daher an dieser Stelle meine subjektive Interpretation und schätze sie dementsprechend ein. Ich werde aber gleichzeitig – als einen gewissen Ausgleich – versuchen, diese möglichst an objektiven Kriterien zu messen. Wo beginne ich nun? Ich versuche es mit dem Gesamtbild.

Gesamtbild (= „der weiße Elefant“):

Die zunehmende Ökonomisierung hat offenbar unsere Gesellschaft zerfranst und überfordert uns nun als Menschen. Es gibt keine gültigen Leitbilder mehr, der bisherige Wertekanon ist im Zustand der Auflösung. Das Ergebnis ist ein „Biotop“ für rücksichtslose Selbstoptimierer, ohne Verantwortung für Kinder oder Eltern oder andere. Sie sind die Gewinner in der heutigen Gesellschaft. Soziale Kompetenzen und Handlungen sind kaum gefragt. Schwache (statt starke) Beziehungen sind von Vorteil, die nach Nutzwert gepflegt oder aufgehoben werden. Das betrifft längst nicht nur die Arbeitswelt, sondern auch das private Leben. Selbst die Sexualität ist weitgehend von Themen wie Fortpflanzung und Familie und liebevoller Zuwendung zum Gegenüber befreit. Auch hier gilt zunehmend ein Konkurrenz- oder Marktprinzip – und dieses ist nur noch schwach in soziale Fragen oder in Werte eingebunden.

Kann eine Gesellschaft aber ohne einen gemeinsamen Wertekanon funktionieren? Und wenn nicht, wie kann/muss der „neue“, den Entwicklungen der Technik und der Ökonomie angepasster Wertekanon aussehen? Das sind offenbar die zentralen Fragen vor denen wir stehen. Und sie müssen dringend gelöst werden.

Wie dringend das ist, zeigen die Vorträge aller (!) Referenten/-innen, für deren Engagement und ihre hochspannenden Vorträge ich mich noch einmal ausdrücklich an dieser Stelle bedanken möchte. Das überraschendste Ergebnis für mich war, dass in allen (!) Vorträgen direkt oder indirekt der Begriff der „Schizophrenie“ angesprochen wurde. Leben wir längst in einer „schizophrenen“ Gesellschaft, in der es von Double-Bind-Situationen nur so wimmelt? Nach dem Symposium bin ich mir sicher, diese Frage mit „Ja“ beantworten zu müssen. Das Programm der aktuellen Moderne ist m.E. daher von der Tendenz bestimmt, seine Widersprüche nicht wahrhaben zu wollen oder sie zu vertuschen … und die beteiligten Menschen dann, wenn diese sich dieser Situation bewusst werden, letztendlich im Stich zu lassen und in der Suche nach Lösungen auf sich selbst zurückzuwerfen. Das wäre der Preis der Mündigkeit, auf den wir noch zu sprechen kommen. Ist es daher vorteilhafter, „dumm“ zu bleiben? Auch das soll noch diskutiert werden.

Die Themen:

Wie Prof. Röll in seinem engagierten und wertungsfreien Vortrag zeigte, fördern die Medien und dabei insb. das Internet die sog. schwachen Beziehungen, die sich vor allem nach Nutzenaspekten orientieren (und bei Nichtnutzen schnell wieder aufgegeben werden können). Die Identitätsbildung Jugendlicher wird erschwert, mangels stabiler Beziehungen, gefördert wird stattdessen eine Art „Singularisierung“ und das „Flanieren“ zwischen verschiedenen Möglichkeiten und Angeboten. Orientierungsarbeit zur Frage, wie man leben will, muss jeder für sich selber leisten. Gleichzeitig wird versucht, Im Internet (Facebook etc.) möglichst positiv präsentiert zu sein. Hier entsteht eine wachsende Kluft zwischen der eigenen wirklichen Persönlichkeit und dem, was man dem „Markt“ präsentiert, zwischen Realität und Virtualität. Kein Wunder daher, dass von Seiten eines Studenten angemerkt wurde, in der heutigen Zeit müsste man „professionell schizophren“ sein. Wie wir nun sehen, ziehen sich diese Gedanken von Prof. Röll in ähnlicher Form durch das gesamte Symposium hindurch.

Dies betrifft beispielsweise (indirekt) auch das Thema „Arbeit“, das in der Plenardiskussion einen großen Raum einnahm. Wie Ulrich Klotz eindrucksvoll zeigen konnte, bewegen wir uns zu auf eine veränderte Arbeitsgesellschaft. Es existiert ein „race against the machine“ der Berufstätigen, immer mehr zur Wertschöpfung dienende Arbeiten werden durch Maschinen geleistet. Es gibt daher einen deutlichen Trend hin zu Arbeiten, die nicht von Maschinen geleistet werden können. Das ist zum Einen die Wissensarbeit, zum Anderen sind es soziale Arbeiten. Arbeit wäre damit genug da.

Nur unterliegen beide – und dies ist hier eine wichtige Ergänzung zum Vortrag und war auch Bestandteil der Plenardiskussion – sowohl den Regeln einer globalisierten Ökonomie als auch den Anforderungen, davon leben und möglicherweise sogar eine Familie ernähren zu können. Nimmt man diese Argumente hinzu, sind die Entwicklungen, die Herr Klotz beschreibt, alarmierend. Denn es bleibt die Frage, ob die geforderte Wissensarbeit und die sozialen Aufgaben vom Kapitalismus (Renditemaximierung der Profiteure, immer weitere Steigerung der betrieblichen Wettbewerbsfähigkeit) gesellschaftlich sinnvoll gestaltet werden können … und ob man davon als Beschäftigter leben kann.

Nehmen wir die Wissensarbeit. Eine feste Bindung zu Betrieben wird bei der globalisierten Wissensarbeit (diese kann überall auf der Welt geleistet werden) die Ausnahme sein. Eine stetige Einnahmequelle von Wissensarbeitern lässt sich daraus nur bedingt schließen. Von der Industrie wird außerdem nur jene Wissensarbeit bezahlt werden, die Unternehmen nützt. Alles andere wie die notwendige Wissensarbeit, um systemische Fehlentwicklungen (wie z.B. das exponentielle explodierende Finanzsystem) zu korri-gieren oder ökologische und menschliche Ressourcen (incl. Familienarbeit, gerechte Verteilung von Einkommen etc.) zu erhalten bzw. wieder einzurichten, wird nicht bezahlt und damit vernachlässigt.

Das ist bereits heute ein Faktum (Universitäten eingeschlossen), das viel zu wenig diskutiert wird. Und auch die Politik ist hier alles andere als ein Vorbild. Man denke nur an die Aussage unserer Bundes-kanzlerin vor dem Untersuchungsausschuss zum Salzstock Asse, als sie ihre frühere Freigabe der Deponierung von Atommüll – trotz warnender Gutachten – kürzlich mit den Worten kommentierte, man hätte die (Atom-)Wirtschaft nicht unnötig belasten wollen. Ökonomisch störende Ergebnisse aus Wissensarbeit werden schnell beiseite geschoben.

Betrachten wir nun die sozialen Aufgaben. Die Folgen der Ökonomisierung sozialer Aufgaben lassen sich gut an Altenheimen beobachten, in denen es nicht darum geht, die Alten menschengerecht zu versorgen, sondern Rationalisierungs- und Renditefragen im Vordergrund stehen. Ähnliches gilt für die Bettenbele-gung in den Krankenhäusern. Einen ähnlichen Betrieb beschrieb bspw. kürzlich die US-Zeitung New Yorker so: „Ein kapitalistischer Betrieb, der auf der Grundlage menschlichen Elends gedeiht und alles dafür unternimmt, dass nichts getan wird, um dieses Elend zu lindern.“ Weil er daran verdient, dass er existiert. Erst die betriebliche Rendite, dann der Mensch.

Wir sehen zum Einen, dass auch hier oft eine Art „schizophrene Situation“ vorliegt: Wir alle (nicht nur Altenpfleger) suchen Arbeit in einem System, von dem wir – schauen wir genauer hin – erkennen müssen, dass es so nicht mehr funktioniert und immer unmenschlicher oder unsozialer wird. So leiden schon heute viele Noch-Beschäftigte zunehmend an Sinnfragen, an fehlender Wertschätzung, an Jobängsten, am Unverständnis für Unternehmensziele und oft an Niedriglöhnen. Zum Anderen müssen wir erkennen, dass hier eine immense politische Aufgabe dringend ansteht: Es gilt, die Arbeitsgesellschaft grundsätzlich neu zu organisieren.

Wohin die Entwicklung gehen könnte, zeigte eine Lösungsidee aus dem Publikum (Dr. Michael Kalff, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler). Er argumentierte folgendermaßen: Solange man glaubt, dass ein Einkommen direkt erarbeitet werden muss, wird es für diese Problematik vor dem Hintergrund einer zunehmenden Automatisierung und Produktivitätssteigerung keine Lösung geben. Als einziger Ausweg bietet sich an, dass das Einkommen erwirtschaftet wird (durch Produktionsbetriebe, durch Maschinen) und anschließend angemessen verteilt wird. Es gilt also, die direkte Abhängigkeit von Erwerb und Arbeit zu trennen, und die Wertschöpfung zusätzlich in den Dienst anderer (sozialer, familiärer) Aufgaben zu stellen. Hierzu gibt es bspw. ein Modell, das Prof. Opielka von der Universität Jena entwickelt hat. Es nennt sich Grundeinkommensversicherung und besteht aus der Kombination eines Grundeinkommens (dessen „Grundgeld“ u.a. von den Maschinen erwirtschaftet wird) mit dem, was die Schweizer Alters-versicherung realisiert hat. Dort zahlen alle angemessen ein (auch die Reichen) und am Schluss gibt es für alle eine relativ niedrige, aber ausreichende Rente, die keiner großen Spreizung unterliegt.

Auch der Feminismus produziert häufig Double-Bind-Situationen. So betont er die Gleichheit von Mann und Frau und wertet gleichzeitig die „Spezies Männer“ ab. Und er übersieht gerne eine der wichtigsten Fähigkeiten (und Wünsche) von Frauen, nämlich die Möglichkeit, Kinder auf die Welt zu bringen … und damit die kulturelle Frage, wie diese familiär zu versorgen sind. Neben der teilweisen Zerstörung der Beziehung von Mann und Frau und der Auflösung der Geschlechterrollen sowie der Familien ist noch etwas Anderes die Folge, auch wenn diese Aussage derzeit „politisch noch nicht korrekt“ ist: Der Lösungs-vorschlag der Vereinbarung von Kind und Karriere in einer Person, der Frau, funktioniert nicht und führt beispielsweise zur Verarmung und Überforderung alleinerziehender Frauen.

Die soziale und ökonomische Ächtung der Familienarbeit führt damit automatisch – gesteigert durch den Geschlechterkrieg – auch hier zu einer Art „schizophrenen Situation“. Von der genaugenommen jeder Mann, jede Frau betroffen ist. Wann ist ein Mann ein Mann? Wann ist eine Frau eine Frau? Eine Situation, deren „Double-Bind“ spätestens dann deutlich wird, wenn man als Frau Kinder haben und Familie leben möchte. Es sind die Kinder, die uns diese notwendige Diskussion aufzwingen.

So waren die Worte der Referentin und ehemaligen Gleichstellungsbeauftragten Monika Ebeling zum Ende des Geschlechterkampfes so entlarvend wie entspannend. Und ihr emotionaler Aufruf an Frauen und Männer, wieder zur „Liebe“ zwischen den Geschlechtern zurückzukehren, die einfache wie richtige Vision für die Zukunft. Zumal hier dann, hat die Liebe Folgen, auch ganz schnell das Wohl von Kindern eine Rolle spielen kann. So war es für mich beeindruckend, wie sehr sie uns an das Wohl der Kinder erinnerte, deren wirkliche und natürliche Bedürfnisse in dieser Gesellschaft oft übergangen werden.

Zu Recht wurde Frau Ebelings Vortrag daher auch von einer Zuhörerin als menschlichster Vortrag des Symposiums gewürdigt, er war dem Menschen und dem tatsächlichen Leben am nächsten.

Wie in der Plenardiskussion deutlich wurde, sind wir damit allerdings nicht nur schnell beim Thema Familie (als Basis unserer Gesellschaft) und der nötigen Wertschätzung für diese meist weibliche Familienarbeit, sondern genauso schnell auch beim Thema Mindestlohn/Mindestrente für diese ökono-misch nicht einpreisbaren Tätigkeiten. Es gilt daher möglicherweise durchaus, in Richtung einer Art „Gleichwertigkeit“ der Geschlechterrollen (Familienrollen?) zu streben, was in einer gewissen Diskrepanz zur aktuell geforderten „Gleichstellung“ steht.

Welchen Beitrag kann uns nun die Philosophie auf unserer Suche nach dem gewünschten Leben in der Zukunft leisten? Zwei für mich sehr wichtige Vorträge haben sich damit beschäftigt. Dr. Dries erwähnte zwar in der Plenardiskussion in einer Art Understatement, „man solle die Philosophie nicht überstrapazieren, sie werde überschätzt – ihre eigentliche Aufgabe sei es, Begriffe und Begrifflichkeiten zu sortieren“. In der Aufarbeitung des Symposiums sehe ich das etwas anders.

Sowohl seine Ausführungen zur Philosophie von Günther Anders als auch der Vortrag von Frau Prof. Kather zur Philosophie von Hans Jonas zeigen mir, dass es gerade solche Philosophen sind, die die großen Fragen unserer gesellschaftlichen Entwicklungen am genauesten analysieren und am besten ihre Folgen für uns Menschen skizzieren (für die kleinen Fragen scheinen mir mittlerweile die Polit-Kabarettisten am geeignetsten zu sein).

Beiden Vorträgen ist übrigens gemein, dass sie sowohl Empfehlungen für unser Verhalten als einzelnen Bürger geben als auch deutlich an die Politik gerichtet sind – die sich in der heutigen Zeit allerdings dann, wenn sie ökonomischen Fragen den Vorrang gibt, und das macht sie ja, wiederholt dagegen versündigt.

Hier stehen also gesamtgesellschaftliche Fragen an, die hochpolitisch sind.

Ein großer Auftrag an die Politik wird überdeutlich. Es gilt dort dringend, das prometheische Gefälle zu beachten, auch und besonders in Zeiten eines globalen ökonomischen Wettbewerbs. Nicht die Technik, nicht das Geld darf regieren. In Zeiten der Dominanz des homo faber und homo oeconomicus muss wieder der weise, nachhaltig denkende und handelnde Mensch zum Vorbild und Inhalt der Politik werden. Dies betrifft (s.o.) auch die Arbeitsorganisation, in der menschliche Tätigkeiten zu einer Art Mit-Funktionieren verkümmert sind. Es gilt auch, das Leben wieder langsamer zu machen, damit Veränderungsprozesse den Menschen nicht mehr überfahren, sondern er an der Entwicklung partizipieren kann.

Die Politik muss daher endlich wieder aus der Getriebenen-Rolle in eine Gestaltungsrolle zurückfinden, sonst verlieren wir alle in diesem schleichenden Prozess, der auf eine (bisher nicht aufgehaltene) Krise zusteuert, deren Heftigkeit noch gar nicht abzusehen ist. Das ist der Auftrag, der von jedem Einzelnen an die Politik gestellt werden müsste! Das Prinzip Verantwortung mag der Politik und uns Einzelnen ein gemeinsamer Wegweiser sein.

Im Spannungsgefälle zwischen den Determinanten des herrschenden Systems und der Moral bzw. dem Gewissen des einzelnen Bürgers wird auch hier eine Art schizophrene Situation sichtbar. So spricht auch Günther Anders von einer „bewussten Schizophrenie“ zwischen Moral des Individuums und fehlender Moral der Welt, nur hat er diese auf die Abwesenheit eines Gottes bezogen und nicht auf die Unmoral der politisch-ökonomischen Oligarchie, die aktuell herrscht.

So wurde, fasst man beide Vorträge zusammen, deutlich, dass wir uns in der heutigen Zeit zunehmend in einer Situation befinden, in der wir erkennen müssen, dass eine Handlung nach den Determinanten des Systems immer häufiger gegen unseren eigentlichen Willen und unser Gewissen gerichtet ist … und wir damit häufig, folgen wir tatsächlich unserem Gewissen bzw. unserer individuellen „Menschlichkeit“, als „Systemteilnehmer“ massive Nachteile in Kauf nehmen müssen. Diese können dann sogar unsere materielle und vielleicht sogar seelische Existenz gefährden. Das ist die „Schizophrenie“ bzw. „Double-Bind-Situation“ unserer Zeit.

Nun mag es ja sein, dass es auch in früheren Zeiten immer wieder galt, ein „schief laufendes System“ praktisch zu akzeptieren und gleichzeitig eigenen, vernünftigeren bzw. menschlicheren Strategien zuwiderhandeln zu müssen, sich also zu arrangieren – um massiven Nachteilen auszuweichen oder (im Extremfall wie z.B. in der NS-Zeit) zu überleben. Und doch bin ich der Auffassung – sieht man von der NS-Zeit ab – dass es noch nie so heftig und widersprüchlich war.

Wie verhalten wir uns, wie gehen wir damit um? Und was ist der Preis? Diese Fragen entwickelten sich für mich als die wesentlichen … und waren Grundlage einer internen Diskussion, die nach dem Symposium anhielt.

Mündigkeit oder Unmündigkeit (?):

Der einfachste (und bequemste) Weg für den Einzelnen – und er ist sehr beliebt – besteht im Verdrängen, im Nicht-Hinschauen, es sich nicht bewusst machen. Man vermeidet damit, sich der Double-Bind-Situation auszusetzen. Und bleibt profitierender Bestandteil des Systems, mit allen Vorteilen des Angepasstseins. Man stellt nichts wirklich in Frage und vermeidet so die Auseinandersetzung. Seien wir ehrlich, der Großteil der Bürger handelt so. Hat Unmündigkeit – betrachten wir all die Vorteile – aber auch ihren Preis?

Gehen wir über zum Ganzen und zu unserer demokratischen Form der Politik, der gesellschaftlichen Verwaltung. Der Preis ist hier jedenfalls hoch: Statt Schwarmintelligenz herrscht im System dann offenbar Schwarmdummheit. Und die Folgen wären im dümmsten Fall jene, die bei Lemmingen bekannt sind oder bei demjenigen, der aus dem Fenster springt und kurz vorm Aufschlag auf den Boden meint, noch wäre ja alles gut gegangen. Dieser „Aufschlag“ würde in unserem System am Ende aber auch die Mündigen treffen – jedenfalls, solange sie in der Demokratie die Minderheit sind. Das ist nicht fair. Daher drängt sich die wichtige Frage auf: Zahlt auch der einzelne Unmündige seinen ganz eigenen Preis? Wir kommen noch zur Antwort.

Stattdessen möchte ich nun noch auf einen weiteren elementaren Widerspruch hinweisen: Die heutige Oligarchie aus Politik und Wirtschaft favorisiert geradezu den unmündigen Bürger, er ist bequem für sie und wird zum steuerbaren Konsumenten, nur widerspricht dies vollkommen dem konzeptionellen Gedanken der Demokratie. Damit wäre die Demokratie in der Praxis eine Staatsform, die sich über ihre Strategie, die Bürger dumm zu halten, selber unmöglich macht. Und automatisch in einer interessen-gesteuerten Oligarchie landet. Fazit: Die Demokratie ist in keiner Weise geeignet, die anstehenden Problem zu lösen. Es sei denn, die Mehrzahl der Bürger wird mündig – ein Phänomen, das es bisher aber noch nie auf der Welt gab.

Betrachten wir deshalb nun den mündigen Bürger, der hinschaut und sich das Dilemma der heutigen Zeit bewusst macht, auch im Hinblick auf das Ganze, betrachten wir den „wahren Demokraten“. Sowohl Günther Anders als auch Hans Jonas fordern ja geradezu vehement diesen mündigen Bürger, um einen an den Menschen orientierte Gesellschaft wieder herzustellen oder den Planeten „zu retten“.

Nun, der Preis der Mündigkeit ist zugegebenermaßen hoch: Der Mündige setzt sich der Schizophrenität der Moderne aus, geht hinein in die Qual der Gedanken zur Bewältigung der Widersprüche und verzichtet immer wieder auch auf die Vorteile des Angepasstseins. Und verbraucht viel Kraft in dem (meist vergeb-lichen) Versuch, die Systemdeterminanten zu verändern.

Welche Vorteile aber hat der mündige Bürger? Ein Ausflug in den tibetischen Buddhismus sei hier versucht, der aussagt, dass unser Leben als ein Prozess des Lernens anzusehen ist und derjenige, der sich diesem widersetzt, eine Art Todsünde begeht. Der Gewinn daraus ist eine andere Einstellung zum eigenen Leben, die es würdevoller und individuell inhaltsreicher macht. Frau Prof. Kather gelang es in ihrem Vortrag, diesen Gewinn der Mündigkeit wunderbar deutlich zu machen. Er sei an dieser Stelle daher wiederholt:

Was kann uns die Motivation für die Mündigkeit liefern?

  • Die Sorge um die Zerstörung der Lebensgrundlagen
  • Mehr innere Autonomie durch Selbstbegrenzung und Abkehr vom Statusdenken, Gewinn an innerer Freiheit und Lebensqualität bei der Wahl von Gütern
  • Gewinn an Würde und den Eigenwert (statt triebgeleitetem Konsumismus)
  • Gewinn an Lebenszeit
  • Intensivere Begegnung mit anderen
  • gesünderes Leben in intakterer Natur
  • Freude an der Ästhetik der Natur (mehr Naturgenuss statt Warenkonsum)
  • Erweiterung des Bewusstseins, indem man sich als Teil der Natur begreift und verantwortlicher lebt
  • ein besseres Gefühl für sinnlose und sinnvolle Tätigkeiten und bessere Einschätzung, was man wirklich möchte

Dr. Dries (mit seiner Entwicklung einer Ethik der Kontingenz auf der Basis der Gedanken von Günther Anders) hat das ergänzend in etwa so formuliert: Wir sollten (wieder) lernen, dass unser Leben als Mensch ein Geschenk ist, dem wir uns würdig erweisen sollten … und das wir bewusst und verantwor-tungsvoll gestalten und dort, wo es geht, genießen sollen. Wird hier eine Poesie des Lebens wieder sichtbar, die uns so sehr abhanden gekommen ist? Ich meine ja.

Damit sind wir dann auch endlich bei dem Preis der Unmündigkeit. Denn dieser Preis ist überraschender-weise ungleich höher: Wir verzichten – bleiben wir unmündig – letztendlich auf ein individuelles, wert-volles Leben. Das ist viel, und sollte uns diese Erkenntnis erst am Ende unseres Lebens treffen, ist der Preis mehr als gewaltig.

So hat die australische Krankenschwester Bronnie Bare zahlreiche Gespräche mit Sterbenden geführt und dabei festgestellt, dass diese oft erst am Ende ihres Lebens erkannten, was wirklich wichtig für sie gewesen wäre. Statt Leistung, Macht und (finanzieller) Sicherheit zählten auf einmal familiäre Sachen und die Öffnung zu anderen Menschen zu den wichtigsten Punkten. Viele Sterbende hätten ihr Leben nach-träglich lieber so gelebt:

1. Nach den eigenen Vorstellungen
2. Weniger gearbeitet (von allen Männern geäußert)!, stattdessen mehr Erleben der Partnerschaft und der eigenen Kinder.
3. Mehr Mut, die eigenen Gefühle auszusprechen!
4. Mehr Bindungen zu anderen Menschen und Pflege der Freundschaften: Am Ende vermisst jeder seine Freunde und bedauert, zu wenig Kontakte zu ihnen gehabt zu haben.
5. Sich selber mehr Glück erlauben (statt im Üblichen verstrickt zu sein). Mehr Mut zum Übermut (und zur Lebendigkeit).

Das sollte uns zu denken geben.

Individuelle Beispiele (Vorbilder):

In den wichtigen Vorträgen von Herrn Pestemer und Dr. Prange wurden denn auch Wege gezeigt, wie der Einzelne mit der schizophrenen Situation unserer Gesellschaft umgehen kann. Versuchte der eine (Herr Pestemer), als Bürgermeister seine mündigen Überzeugungen – ganz im Sinne von Hans Jonas und gegen den Widerstand der übergeordneten, etablierten politischen Verwaltung – zur Wiederherstellung einer funktionierenden Gemeinde umzusetzen, so ging der andere (Dr. Prange) den Weg vom Unternehmens-berater in der Sinnkrise zur Poesie, zum Schriftsteller.

Beide Wege waren und sind nicht einfach, so erwähnte auch Herr Pestemer die schizophrenen Situatio-nen im Kampf mit den übergeordneten Behörden, beide führen aber individuell zu einem spürbar erfüllteren Leben. Indem mündige Menschen ihre Werte formulierten und sie realisierten.

So kam denn auch in der Plenardiskussion der Gedanke auf, dass wir einen Sinn (und eine Orientierung an das Wertvolle) in unserem Leben darin finden können, wenn wir uns einer Sache verschreiben, die größer ist als wir selbst. Das muss nicht unbedingt beruflich sein, sondern kann auch in der Familienarbeit liegen.

Ausblick:

Wer vom Symposium einen allgemein gültigen Lebensentwurf oder Gesellschaftsentwurf erwartet hat, dürfte etwas enttäuscht worden sein. Das Symposium liefert stattdessen etwas Anderes: Die Erkenntnis, dass wir derzeit in einer in vielen Bereichen schizophrenen Gesellschaft leben, die so (da nicht nachhaltig) nicht mehr weiter funktionieren kann und wird. Wir leben damit in einer Kultur, mit der wir uns – denken wir etwas nach – nicht mehr identifizieren können.

Damit stecken wir gesellschaftlich in einer elementaren Krise, deren Verlauf nicht mehr absehbar ist und deren Entscheidungsträger derzeit nicht in der Lage oder gewillt sind, die notwendigen Veränderungen zu denken bzw. in die Wege zu leiten.

Die anstehenden Aufgaben sind aber gewaltig: Es gilt, wieder das Primat der Politik über Technik und Ökonomie herzustellen, Arbeit und Einkommen neu zu organisieren und wieder eine neue Kultur der Geschlechter und Familien zu finden und zu leben, die Medien (incl. Werbung) menschengerecht zu gestalten und unsere auf Wachstum dressierte Wirtschaft (incl. Finanzwelt) und die Überflussökonomie in die Schranken zu weisen. Das ist ziemlich viel auf einmal, aber dahin muss der Weg gehen – und in irgendeiner Form, sei es durch einen Crash oder eine Reformierung, wird er es auch. Wir stehen daher – trotz zwischenzeitlich turbulenter Zeiten, die vor uns liegen – vor einer Rückkehr von Werten, von mehr Sein als Schein, von mehr Authentizität und Ehrlichkeit, und vor einer veränderten Arbeits- und Wirtschaftswelt. Das wird auf alle Fälle ein Gewinn sein, und es sollte uns hoffnungsfroh stimmen.

Was weiterhin deutlich wurde, ist die Forderung nach Mündigkeit des Einzelnen, unabhängig davon, was „die da oben“ entscheiden; hier könnte das janusköpfige Internet durchaus eine treibende Rolle spielen. Wir alle sollten aber nicht warten, bis ein neuer gesellschaftlicher Konsens fertig ist, sondern mit der Mündigkeit schon heute anfangen – und dabei mit uns selbst behutsam umgehen (mit Märtyrern ist das so ´ne Sache). Denn diese Mündigkeit, das haben wir oben gesehen, ist für uns selbst ein Gewinn. Das ist aus meiner Sicht das, was aktuell für uns selbst ansteht. Mag es eine Triebfeder werden für eine Veränderung „auch da oben“.

Wohin wird uns diese Mündigkeit führen? Nun, die Erkenntnisse aus dieser Mündigkeit können durchaus wieder zu alten, konservativen Vorstellungen führen. So kann uns die Einsicht dazu führen, dass wir wieder das Zusammenleben der Geschlechter in Form von Poesie und Liebe gestalten wollen (statt irgendwelcher Machtkämpfe) und Familiäres als wichtig empfinden und dort einen Sinn und Werte suchen. Oder dazu, unsere Arbeit wieder mit mehr Sinn zu füllen und dies auf andere auszustrahlen. Unsere Einsichten werden uns aber auf alle Fälle dahin bringen, bewusste Kompromisse mit den aktuellen „Systemdeterminanten“ zu suchen und zu leben, im Sinne von mehr Verantwortung für uns und die anderen und das Ganze, im Sinne von mehr Demut vor dem Geschenk unseres Lebens und dessen Würdigung, die daraus folgt, im Sinne von mehr Freude daran und mehr Lebendigkeit. Das wäre ein schöner Gewinn aus dieser Mündigkeit.

Nach dem Abbau des Menschlichen (Konrad Lorenz) führt der Weg damit hoffentlich wieder zu einer Art Rückkehr des Menschlichen. Der Weg des Einzelnen dahin kann – solange kein neuer gesellschaftlicher Entwurf existiert – gegenwärtig nur individuell erfolgen.

Mag uns die Poesie des Lebens und der Welt, die es zu schützen und zu leben gilt, ein Wegweiser dahin sein. Für uns alle.

Dr. Michael Harder, im November 2012